Sonntag, 31. Januar 2016
Der "englischsprachige" Deutschbuchleser, der seinen eigenen Dreck nicht wegmachen wollte
Nix Böses ahnend lasse ich mich mal wieder mit dem heißgeliebten öffentlichen Nahverkehr zur Arbeit zuckeln, gucke mir dabei Stadt und Leute an und schaue auch gern mal gedankenverloren aus dem Fenster, um mich selbst und das Treiben um mich herum zu relativieren... Manchmal denke ich auch, wenn die Menschen in meiner unmittelbaren Nähe nur für mich sichtbare Gedankenblasen über ihren Köpfen hätten, dann könnte ich eine mehrbändige Doktorarbeit über soziale Gedankenstudien verfassen... Aber die Gedanken sind frei - Ihr Lieben, und das ist gut so! Bitte jetzt schmunzeln!


Und während ich mich also so fremdbestimmt durch die deutsche Hauptstadt transportieren lasse, steigt ein sehr junger Mann ein, setzt sich mir gegenüber hin und legt seinen Bäckerei-Imbiss ab, stellt seinen Coffee-To-Go-Cup (also einen Pappbecher mit Deckel und heißem Kaffe drin) auf den Sitz neben sich und legt noch ein ziemlich zerfleddertes Paperback-Buch mit dazu. Meine geneigten Leserinnen und Leser - ohne Anglizismen scheine ich heute nicht auszukommen - also "Paperback" - "Papier zurück" - das sind diese weichen Bücher für 0815 Taler, die fürs Buchregal nix taugen; und "Hardcover" - was "Festeinband" ist, wäre der teuere Gegenpol. Den hatte der jungspuntige Fahrgast aber eben mal nicht dabei... Ok. Geklärt. Jut!


Direkt neben mir zum Gang hin sitzt übrigens auch ein Mann. Ziemlich ruhig, morgendlich zurückhaltend, anständig gekleidet, nach Körperpflege riechend - also als Sitznachbar völlig passabel. Der junge Bäcker-Kaffee-Buch-Typ uns beiden gegenüber fängt aber kurz nach dem Hinsetzen an zu Kramen und zu Knistern und zu Nesteln und laut zu Kauen und verbreitet eine jugendliche Hektik, die seinesgleichen sucht... Mein Nebenmann und ich gucken uns kurz an, schmunzeln verschmitzt und ziehen beide eine Augenbraue hoch - wir waren uns einig! Soviel steht fest.


Nachdem dat Knisterjungchen dann endlich erfolgreich gefrühstückt hatte und wir uns diesen Akt der Nahrungsaufnahme unfreiwillig mit angucken mussten, kam der Abgefrühstückte dann auch langsam zur Ruhe. Er hielt sich verzweifelt konzentriert sein Literaturobjekt vor die Nase und versuchte ebenso verzweifelt, sich diese konzentrierte Bildung "reinzuziehen" - nur, dass das eben nicht so schnell wie mit Kaffee und Backwerk vonstatten ging. Er runzelte öfter die Stirn, schien manche Textstellen zwei Mal lesen zu müssen und sprühte irgendwie vor heller Begeisterung für das bisschen Belletristik da in seiner unmanikürten Hand...


Aber das ganze Gewese des Literaturjunkies war lediglich ein Ablenkungsmanöver. Mein Sitznachbar und ich hatten dies von Anfang an durchschaut und haben uns offensichtlich - wenn auch die Pointe abwartend - köstlich darüber amüsiert, wie der Bücherfritze versuchte, Stück für Stück seinen Pappbecher samt Bäckereitüte immer tiefer hinter sich bzw. zwischen sich und der Rückbank verschwinden lassen zu wollen. Zentimeter für Zentimeter erarbeitete er sich, indem er mal ein Taschentuch herausholte oder sich rekeln musste oder kurz aus dem Fenster sah, um sich dann wieder etwas anders hinzusetzen usw. und so fort - zum Piepen, sag`ich Ihnen!


So. Und nun kam das Highlight (Hochlicht?) der ganzen Aktion! Als der Pappbuchfreund dann aussteigen wollte, hatte er selbstverständlich die Absicht, das Verpackungsmaterial seines S-Bahn-Frühstücks auf seinem Sitz liegen zu lassen - oh ja! Fast zeitgleich verwiesen mein Immer-noch-Sitznachbar und ich den Müll-Bubi darauf hin, doch seinen Abfall mitzunehmen. Unglaublich aber wahr meinte dieser doch dann:"Sorry???", im Sinne von "Ich verstehe nicht?" Aber wir wiederholten gern unseren "Nimm bitte Deinen Müll mit!"-Satz für unseren ach so sehr internationalen Mitmenschen...


Aber jetzt kommt noch der Knaller! Sagt der Fuzzi doch glatt mit breitem Grinsen: "In English, please!" Kriegste, Schätzchen - aber postwendend, dachte ich mir, und trällerte den Mülltext nochmals und mit noch breiterem, charmanten Grinsen. Tja, Du wohlgeformte Flachzange - würde der Berliner Volksmund sagen - nich mit mia! Und in einem höchst pointiertem Oxford-Englisch mache ich dem Zivilisationsbanausen auch gleich noch klar, dass ich meine Aufforderung an ihn auch noch in mindestens 6 weiteren Fremdsprachen verfassen könnte - "You stupid fool!" - aber letzteres blieb ungesagt und nur in Gedanken...


Und was soll ich sagen!? Dat Bücherschätzelein nimmt wortlos seinen Müll und trabt von dannen! Siehe an! Wir haben seinen geistigen Horizont erreicht! Was für eine Leistung des morgendlichen Sozialverhaltens in der Großstadt! "Haben Sie eigentlich gesehen, dass er die ganze Zeit ein deutsches Buch gelesen hat?", frage ich meinen Sitz-Team-Mann. "Nee! Echt?" "Ja.", antwortete ich, "Was für ein Trottel - oder? Und macht dann einen auf Englisch-Sprecher - ist doch zum Totlachen!" Mein Sitznachbar und ich amüsierten uns köstlich. Ich hätte ihm auch noch sagen können, dass das Buch zur Lektüre an der gymnasialen Oberstufe hier in Berlin gehört und sogar fest im Rahmenplan für den Deutschunterricht verankert ist - aber das hätte zu weit geführt... (Was man als bloße S-Bahn-Mitfahrerin so alles weiß - oder?) Selbst der Schulstempel des Gymnasium war zeitweise erkennbar - was war das bloß für ein Dussel, man, man, man...


Kaum auf der Oberstufe kriegt man also jetzt solche Höhenflüge? Und da schafft man es auch nicht mehr, zu Hause zu frühstücken? Und, wenn er es schon bis zum Abi geschafft hat, aber das Thema mit der Müllentsorgung aus der Grundschule ist wohl eine Wissenslücke - oder was? Ist der Typ morgens aufgestanden und hat beschlossen, mit seinen drei Brocken Englisch seine Mitmenschen zu verarschen? Denkt er etwa, dass er der Einzige in einer fast 7-Millionen-Menschen-Stadt ist, der etwas Anglophones auf dem Kasten hat? Wer zum Geier hat diesen Freak ins Gymnasium gelassen? Sind das etwa die studierten Fachkräfte von morgen, die meine Rente erarbeiten sollen? Wer genau hat da eigentlich an der Erziehung geschlampt? Und wann kommt endlich die Steuer auf diese dussligen "Zum-Gehen-Becher"???


Und das ist dann auch noch die Welt, in der ich lebe - erklär`sie mir, ich find`sie nämlich blöd!